Die Ungewissheit ist seit der Diagnose unser ständiger Begleiter. Ständig hat man tausend Gedanken und Fragen im Kopf, für die es keine Antworten gibt. Das Gehirn ist davon gestresst. Es mag, wenn Fragen beantworten werden. Fragen wie…
- Mein Leben wie es jetzt ist, ist dann wohl vorbei! Oder?
- Nichts wird so, wie es mal war oder wir es uns vorgestellt haben!
- Es ist schon jetzt alles so kompliziert, obwohl das Herzkind noch nicht mal geboren ist! Wie wird es wohl erst später?
- Ich weiß nicht, ob ich das schaffe, so ein Kind zu begleiten! Ich weiß nicht, ob ich das Kind lieben kann!
- Ich weiß nicht, wie alles werden wird!
- Kann er das schaffen, die OPs und Therapien? Und glücklich werden?
- Schaffen wir als Familie es, das Leben mit einem Herzkind zu leben und zu genießen?
Wenn man kurz nach der Diagnose im Nebel feststeckt, bzw. komplett in Schockstarre verfällt, dann ist die Ungewissheit noch ein riesiges unförmiges allgegenwärtiges Monstrum. Es drückt auf die Stimmung, wabert durch den Alltag, setzt sich in jede Ritze und Minute und bremst jede Bewegung.
Irgendwann findet man, mehr durch Zufall, einen Anfang. Ein kleiner, greifbarer Zipfel hängt raus. Ein Begriff, den man googeln kann. Ein Arzt, der wirklich viel Zeit hat. Ein*e Bekannte*r, der vom gleichen Thema betroffen ist.
Wenn man diesen Zipfel als Chance begreift, das Monstrum näher kennenzulernen, dann hat man die Chance, dass die Ungewissheit oder Unsicherheit weniger unförmig und allgegenwärtiger wird.
Slice the elephant, sagen Manager dazu. Schneide den Elefanten in kleine (verdaubare) Stücke.
Die Ungewissheit zerlegen
Und so legt man sie nach und nach frei. Die vielen kleinen Teil-Ungewissheiten und Unsicherheiten, aus denen das Monstrum besteht. Man erkennt, dass man nicht tagtäglich mit dem großen Monstrum umgehen muss, sondern dass man sich Stück für Stück vorarbeiten kann. Dass man Teile auf „Wiedervorlage“ legen kann. Dass man Teile an andere delegieren kann. Man lernt Teile zu priorisieren. Andere auf Eis zu legen.
- Wird er später ganz normal zur Schule gehen können? —> ist aktuell noch völlig egal und wir können auch gerade nichts daran ändern. Also raus aus dem Hirn, runter vom Stapel und auf Wiedervorlage in 5 Jahren!
- Wird er sich ganz normal entwickeln können? Können wir Stillen, Tragen, Brei füttern? —> das wird uns die Zeit zeigen. Der Punkt bleibt unter Beobachtung im Hinterkopf. Aber tun können wir gerade nichts!
- Wird er ganz normal zur Welt kommen können? —> gute und wichtige Frage, die es bald anzugehen gilt! Denn die Antwort können nur Spezialisten geben. Und die Antwort wird weitere dringende Entscheidungen nach sich ziehen.
Ich bin nun schon knapp ein Jahr dabei, unser Monstrum abzutragen. An manchen Tagen kommt es mir ähnlich übermächtig vor, wie kurz nach der Diagnose. Dann sitzt es mir im Nacken und raubt mir die Luft zum atmen.
An anderen Tagen fällt das Monstrum nicht auf. Dann verscheucht ein Sonnenstrahl oder ein Witz den klebrigen Nebel aus dem Alltag und wir können gut Lachen!
Nach ungewiss kommt ungewiss
Eins ist gewiss. Die Ungewissheit oder Unsicherheit wird immer Teil unseres Lebens sein.
Wir sind gestartet mit der Ungewissheit, wie unser Kind mit angeborenem Herzfehler sein Leben meistern kann. Eine OP und zwei Reanimationen später, haben wir ein Herzkind mit beidseitigen Schlaganfällen. Das Monstrum der Ungewissheit ist zurück. Größer und unhandlicher als ich es in Erinnerungen hatte. Aber ich habe ihn erstaunlich schnell gefunden. Den einen Zipfel den es braucht, dieses Monstrum zu zerlegen und zu entmachten.
Selbst wenn wir einmal unser Monstrum in seinen Einzelteilen kennen sollten, können wir nicht vorhersehen, was passiert. Das Leben ist eine Wundertüte, das Leben mit Kindern erst recht, das Leben mit chronisch kranken Kindern sowieso.
Ärztliche Untersuchungen sind Alltag und jede Untersuchung bringt neue Diagnosen, die den Status quo auf den Kopf stellen. Ein Leben voller Überraschungen. Seien es gute oder schlechte.
Als Mama eines chronisch Kranken Kindes sind Ungewissheit und Unsicherheit allgegenwärtig. Nichts ist vorhersehbar, nichts auf lange Sicht planbar.
Was bleibt ist, damit umgehen zu lernen. Sich nicht bei jedem Kurswechsel entmutigen zu lassen. Zu lernen, die Richtung zu halten und nicht das nächste Zwischenziel.
Das Leben mit einem chronisch kranken Kind ist kein Marathon, sondern ein Orientierungslauf. Nicht die Anzahl der abgelaufenen Kilometer bestimmen den Erfolg, sondern die permanente Ausrichtung an einem gemeinsamen Ziel: das Leben mit den Kindern zu gestalten und die Bedürfnisse aller unter einen Hut zu bekommen.
Das nächste Stück Ungewissheit
Ein Stück der großen Ungewissheit hat diese Woche Wiedervorlage-Termin. Die große Korrektur-OP.
Findet sie überhaupt statt? Wie wird sie verlaufen? Wie wird das Herzkind sie vertragen? Kommt es zu Komplikationen? Wie lange dauert die OP und wie lange bleiben wir danach auf der Intensivstation? Wie lange danach wird es dauern, bis er wieder fit ist?
Fragen über Fragen, deren Beantwortung nur die Zeit bringt. Und damit sind wir wieder bei meiner persönlichen Paradedisziplin: Geduld.
Also stay tuned, Antworten kommen!