Eigentlich kann ich diesen Artikel noch nicht schreiben. Ich hab das Thema für mich noch nicht bis in jeden Winkel beleuchtet. Aber das Thema ist so groß! Ich weiß nicht, ob ich je alle Winkel finde. Aber Stein des Anstoßes für diesen Text war ein Chat mit meiner Schwester.
Im Chat mit meiner Schwester stand er irgendwann da, dieser Satz: „man will ja sein Kind nicht mit seinen Glaubenssätzen zum Thema Behinderung behindern!“
Braucht ihr ne Herleitung? Bekommt ihr!
Nennt mich naiv oder ignorant, ich habe mich bisher nie mit dem Thema Behinderung auseinandergesetzt
Für diejenigen die meinen Blog verfolgen, ist es nichts neues, dass wir seit Mai einen kleinen Sohn haben mit einem angeborenen Herzfehler, der während der Zeit im Klinikum einen Schlaganfall erlitten hat und damit ein höheres Risiko für eine psychische oder physische Behinderung in sich trägt.
Und somit habe ich, die sich ihr Leben lang vor diesem Thema gedrückt hat, die Aufgabe, sich mit diesem Thema zu befassen. OK.
Viele Menschen in meinem Umkreis sind mir mit den Gedanken zum Thema Behinderung einige Jahre bis Jahrzehnte voraus. Also zum Beispiel meine Schwester, die seit über 20 Jahren Logopädin ist und mir bei dem Thema jetzt das ein oder andere Stichwort zum nachdenken vor die Füße geworfen hat.
Das erste Mal hat mich das Thema Behinderung angestupst, als wir bei der Pränataldiagnostikerin von dem Herzfehler erfuhren. Wir hatten das Ersttrimester-Screening nur deswegen gemacht, weil wir uns es nicht zugetraut haben, ein Kind mit Trisomie 21 zu begleiten. Als Ergebnis des Ersttrimester-Screenings kam heraus, dass es keine Trisomie 21 ist, sondern ein Herzfehler. Und später hat sich noch eine Duodenalstenose anhand eines Double Bubbels gezeigt. Beides ist operabel. Und „operabel“ hieß für mich: „nach der OP ist das weg und alles ist gut“. Spätestens hier könnt ihr mich naiv nennen! Oder das ist nur eine besonders gut ausgeklügelte Funktion unseres Hirns. Sich nicht zu sorgen um Dinge, die noch gar nicht absehbar sind. ??♀️
Also muss ich mich wohl einmal damit auseinandersetzen, was meine Glaubenssätze und mein innerer Kompass zum Thema Behinderung sagen.
Die Leidvermutung
Ich weiß ganz rational, dass andere Menschen – wie beispielsweise meine Schwester – den Ansatz vertreten, dass jedes Leben lebenswert ist und jedes Leben auch ein erfülltes und glückliches Leben sein kann. Und ich gebe zu, dass meine Glaubenssätze da eine ganz ganz andere Richtung einschlagen.
Wenn ich eine Inventur über meine Glaubenssätze zum Thema Behinderung mache, dann komme ich ganz schnell bei dem Standpunkt an, dass in meiner Welt die Menschen für meine Begriffe weder ein erfülltes und noch ein glückliches Leben führen können. Irgendwie vermute ich da immer ein Vermissen, einen Schmerz oder eine Traurigkeit.
Bei einer Google Recherche dazu, bin ich auf das Thema Leidvermutung gestoßen. Leider bin ich wohl nicht die einzige, mit falschen Glaubenssätzen. ? Die These der Leidvermutung ist, dass wir ein bestimmtes Leid bei einem Menschen vermuten und so sein oder ihr Leben für weniger lebenswert halten. Der Artikel geht noch weiter und beschreibt, dass das so ja auch zum Beispiel in den Sprachgebrauch bei der Pränataldiagnostik übergegangen ist. Da wird immer nur von Abweichung von der Norm gesprochen. Ein Herzfehler, eine Behinderung, ein fehlendes Chromosom. Und sie beschreiben auch, dass es dann für die angehenden Eltern sehr schwer ist, sich von diesem defizitären Denken zu lösen und sich dann oft aufgrund dieser Leidvermutung für einen Abbruch der Schwangerschaft entscheiden.
Aber wenn man sich von diesem Denken löst, dann kann man auch Gedanken zulassen, dass erst dann eine Behinderung zum Tragen kommt, wenn man in unserem täglichen Leben behindert wird. Und dieses tägliche Leben ist ein künstlich geschaffenes Korsett. Wir könnten es ändern. Gäbe es weniger Barrieren, gäbe es auch weniger Behinderungen. In einem Dunkel-Restaurant sind wir Sehenden die Menschen mit der Behinderung!
Warum wird nicht jedes neue Projekt barrierefrei gedacht? Ich hab noch nie in meinem Leben einen barrierefreien Spielplatz gesehen. Warum ist eine Innenstadt nicht per se barrierefrei? Es wäre ein leichtes, da notwendige Rahmenbedingungen zu schaffen.
Sich seiner Gedanken-Barrieren bewusst werden
Und da ist er auch schon, der Bogen zu einer bewussten Elternschaft. Denn ich kann mich super darüber echauffieren, dass der Staat oder der Eisdielenbesitzer Barrieren errichten und dulden dürfen. Aber ich kann ja auch gut mal vor meiner eigenen Haustür kehren.
Zwar ist überhaupt noch nicht gesagt, welche Behinderung unser kleiner Sohn später mal haben wird und ob er überhaupt eine Behinderung haben wird, aber dennoch möchte ich von vornherein gedanklich damit wachsen.
Denn in der Elternschaft sind wir es, die Rahmenbedingungen schaffen. Die Barrieren gestalten und dulden. Und damit unsere Kinder – ob mir oder ohne Behinderung – behindern.
Ängstlichere Eltern behindern ihre Kinder, sich zu sicheren Kletterern zu entwickeln. Eltern, die in ihrer Kindheit nie gelernt haben mit dem Thema Wut umzugehen, behindern ihre Kinder bei der Entwicklung einer Selbstregulierung für ihre Gefühle. Helikopter-Eltern behindern ihre Kinder in ihrer freien Entfaltung. Ich spare es mir, für jeden möglichen Glaubenssatz ein Beispiel anzuführen.
Zurück zu meinen Glaubenssätzen zum Thema Behinderung. Es besteht nun die Gefahr, dass ich meinem Sohn ähnliche Glaubenssätze zum Thema Behinderung mitgebe. Dass auch er das Gefühl bekommt, sein Leben wäre weniger glücklich oder weniger lebenswert als das Leben anderer Kinder, nur weil er einen Herzfehler hat oder Entwicklungsverzögert ist. Vielleicht nicht das leisten kann, was andere leisten und das einen Unterschied macht (was es nicht sollte!). Ich muss aufpassen, ihn nicht unbewusst in eine Richtung zu steuern, dass auch er sein Leben als defizitär wahrnimmt, obwohl es das objektiv vielleicht gar nicht ist.
Also mache ich weiter mit der Inventur meiner Glaubenssätze. Und sind sie irgendwie nicht im Einklang mit solchen Begrifflichkeiten wie Inklusion oder Diversifikation, verabschiede ich mich von ihnen. Nach und nach.
Damit nicht ICH es bin, die meinem Sohn gedankliche oder reale Barrieren mitgibt. Damit nicht ICH meinen Sohn mit meinen Glaubenssätzen zum Thema Behinderung behindere.
Und wenn ich dann fertig bin mit meiner eigenen Haustür, dann kann ich weitermachen. Auf der Straße oder in meiner Stadt. alles für ein Leben mit weniger Barrieren, sei es im Kopf oder im realen Leben.
Diesen Artikel entstand für die Blogparade der Leuchtturm Eltern! Hier fragt Birthe nämlich, in welcher Welt DU leben möchtest! #blogparadeleuchtturmeltern2022)
Liebe Claudia, wow, ich staune mal wieder über deine Offenheit!
Das Thema ist wirklich riesig. Ich habe angefangen, da einzutauchen, als ich zwischen 2011 und 2015 in der Behindertenhilfe gearbeitet habe.
Es ist so toll, dass du schon jetzt anfängst, zu „kehren“. Das System bzw die Gesellschaft kann sich nur ändern, wenn wir alle mit machen. Dazu gehört auch, den „Opfer-Hut“ abzusetzen und in die Selbstwirksamkeit zu kommen.
Ich sende dir eine dicke Umarmung!
Wiebke
Liebe Wiebke! Danke für dein Feedback! Ich wusste nicht, dass es ncch zu viel zu „kehren“ gibt bei mir. Aber immer wenn man ein Thema „durch“ hat, kommt anscheinend ein neues auf! ?♀️