Wer mich in der letzten Zeit fragt, wie es mir geht, nimmt unfreiwillig an meiner Gefühls-Lotterie teil. Je nachdem, bei welchem Gedankengang ich gerade erwischt werde, gibt es mehrere Möglichkeiten.
Zum Beispiel rief mich heute morgen meine Schwester an, als ich dabei war mich mit Pflegezusatzversicherungen herumzuschlagen. Eine Thema mit einer derartigen Komplexität, die leider nicht nur wichtig sondern aufgrund von Wartezeiten bei Neuversicherungen echt dringend ist.
Also blieb der Zeiger der Gefühls-Lotterie bei ihrem Anruf bei „STRESS!!“ stehen. Stress, weil es so viel mehr Organisation ist, sich auf ein besonderes Kind vorzubereiten. Die eventuell notwendigen Hilfen zu sondieren. Sich auf die erste stressige auch mental Zeit vorzubereiten. Mehr auf die finanziellen Aspekte zu schauen als sonst notwendig. Weiter in die Zukunft zu schauen als sonst nötig. Sich bei mehr als einer Geburtsklinik anzumelden. Nicht nur Kreißsaal, sondern auch die Kinderintensivstation zu besichtigen. Zweiteinungen einzuholen. Die Kinderbetreuung nicht nur für die Geburt sondern für Wochen zu organisieren. Unterbringungsmöglichkeiten an den verschiedenen Kliniken studieren. Planungen anstellen, wie man die Zeit mit zwei halben Familien aber nur einem Auto gestalten kann. Und und und… mir – obwohl hartgesottene IT-Projektleiterin raucht der Kopf!
Sie hätte mich aber auch bei der Recherche nach Operationsmöglichkeiten erwischen können. Dann hätte ich sie überschüttet mit meiner Begeisterung darüber, was die heutige Medizin und Wissenschaft leisten kann bei angeborenen Herzfehlern! Völlige Faszination darüber, wie sich das Leben mit einem angeborenen Herzfehler in den letzten Jahrzehnten verändert hat (EMAH, also „Erwachsene mit angeborenen Herzfehlern“ gibt’s noch nicht lange!)
Kurz nach der Begeisterung und Faszination bin ich stets im „Dankbarkeits-Modus“. Dankbarkeit darüber, dass wir in einem Land mit derart herausragend medizinischen Versorgung leben und über die Gewissheit, dass der Kleine immer die bestmögliche Versorgung haben wird.
Oft befinde ich mich aber in der totalen Ungewissheit und Unsicherheit darüber, wie die Zeit für oder gegen uns spielt. Darüber was besser ist, die OP so schnell wie möglich über die Bühne zu bekommen oder ob es besser ist noch auf mehr Gramm und noch mehr Millimeter zu warten. Dann weiß ich schon nicht mal mehr, was ich dem kleinen Kämpfer oder uns als Familie wünschen soll.
Und nach der Ungewissheit kommt oft die Angst. Angst davor, dass wir nicht ohne großen Komplikationen durch die Zeit kommen. Angst davor, dass bis zur Geburt noch andere Diagnosen hinzukommen. Angst davor, dass durch die OP Folgen entstehen, die kein nahezu beschwerdefreies oder langes Leben ermöglichen.
Dann mache ich mir oft Sorgen. Sorgen über „Kollateralschäden“. Verpacken es beide Kinder immer wieder von einem Elternteil getrennt zu sein? Welche Folgen wird es haben, dass der Kleine die Nächte alleine auf der Intensivstation verbringt und nachts keine vertraute Person da ist? Wie wird es die große Schwester verpacken, dass für Wochen und Monate keine gemeinsame Familienzeit möglich ist? Können wir in dieser Familiensituation alle Bindungstanks ausreichend füllen?
Nach der Sorge kommt die Trauer. Trauer um die uns entgehende Leichtigkeit und Unbeschwertheit der Schwangerschaft und ersten Babyzeit. Kein kuscheliges Wochenbett, kein Kennenlernen der Geschwister als Neugeborenes, keine Familienzeit in den ersten Wochen, kein „in den Tag hineinleben und Rhythmus finden“. Dafür mehr Erschöpfung und Verzweiflung als sonst im Wochenbett, gepaart mit durchorganisierten und durchgetakteten Tagen. Es ist wirklich Trauerbewältigung, die ich durchmache.
Und ab und zu kommt bei mir inzwischen ganz zaghaft was tolles auf: Vorfreude auf die Zeit nach der Klinik. Wenn zwar die Sorgen nicht weniger sind, aber der Organisationsaufwand deutlich geringer ist. Wenn Familienzeit möglich ist. Wenn die Herausforderungen des Alltags endlich ganz alltägliche sind. Diese Momente kann ich kaum erwarten!